Sunday Bingo im The George
„Dublin vermittelt den Eindruck einer sehr LGBT-freundlichen Stadt.“ Wir stehen im gut besuchten Außenbereich hinter der legendärsten Gay-Bar der Stadt: The George. Drinnen geht es schon heiß her mit viel Jubel und Trubel, während die hauseigene Drag-Queen Shirley Temple Bar ihrem begeisterten Sunday Bingo-Publikum auf der Tanzfläche so richtig einheizt. Ich mache draußen eine Pause, um ein bisschen Luft zu schnappen, und unterhalte mich mit zwei sehr süßen Freundinnen mit vielen Piercings aus Spanien.
Das Paar hatte zuvor die besten Barhocker neben der Bühne mit Beschlag belegt, auf die meine Freundinnen Moninne, Orla und ich ein Auge geworfen hatten. Wie Ihnen jeder Stammgast hier sagen kann: Wenn Sie einen Sitzplatz ergattern möchten, dann sollten Sie früh hier sein.
Wir waren zum ersten Mal in den späten 1990er Jahren beim Bingo im The George, aber heute Abend haben wir den Fehler aller Neulinge begangen und sind zu spät eingetroffen, um noch Barhocker zu bekommen. (Obwohl die Türsteher ihrem überaus freundlichen Ruf gerecht wurden und uns dabei halfen, wenigstens einen Hocker für einen schmerzenden Rücken zu finden.)
Shirley Temple Bar, Gastgeberin von Sunday Bingo im The George
Als Touristen auf einem Wochenendtrip ist das spanische Pärchen in Sachen Bingo Anfänger; sie sind hierher gekommen, um Irlands am längsten laufende Drag-Show zu sehen. Beide sagen mir, dass ihre Heimatstadt mit so etwas nicht aufwarten kann. Es macht ihnen Spaß, einen Ort zu erkunden, der eine Queer-Bar für jede Stimmung zu bieten hat: von dem ruhigen Komfort des Penny Lane über Spaß ohne Ende in der Pantibar und der begeisterten Menge und dem ungewöhnlichen Dekor im Street 66 bis hin zu dem alkoholfreien Outhouse Café.
Obgleich es heute Abend viele Touristen hierher verschlagen hat, verfügt Sunday Bingo auch über Stammgäste, die ihre Woche liebend gerne mit einem Schuss reinen, fabelhaften Dublin-Spaß ausklingen lassen. Während der Show freunde ich mich mit einer Gruppe aus irischen und brasilianischen Männern an, die mir sagen, dass es „an einem Sonntagabend in Dublin, wenn man schwul ist, nur einen Ort gibt, den man besuchen sollte ... Das sind unsere Leute, es wird erstklassige Unterhaltung geboten, und es ist kostenlos!“
Ein lebhafter Abend im The George
Was erstklassige Drag-Shows angeht – und seit RuPaul weithin bekannt geworden ist, sind wir ja alle Fans –, hat diese einfach alles zu bieten. Da ist der spektakuläre, smaragdgrüne Kopfschmuck, der von Davina Devine getragen wird, während sie „Diamonds are Forever (AND a girl’s best friend)“ bis zu „Material Girl“ alles Playback singt.
Eine Windmaschine bläst, während Glam Rock Queen Veda Beaux Reves mit voller Hingabe „Spanish Train“ schmettert, Chris de Burghs Powerballade über ein Schachspiel zwischen Gott und dem Teufel. (Hier geht's um wirklich hohe Einsätze, denn „many souls are on the line“.)
Es werden klassische Showlieder dargeboten, wie Ethel Mermans „Everything’s Coming Up Roses“, gesungen mit beharrlichem Herzen und tätowierter Seele von der erfahrenen Drag-Queen Dolly (auch bekannt als Moderatorin der jährlichen Eurovisionsveranstaltung im The George), die an diesem Wochenende einen sehr großen Geburtstag feiert.
Von links nach rechts: Veda Beaux Reves, Shirley Temple Bar, Dolly Grip (mit Sitzplätzen), Devina Devine
Dolly Grip
Und für etwas Fokus und Zweckorientierung im Spielverlauf von Sunday Bingo sorgt der frühere Kinderstar, die einzigartige Shirley Temple Bar, die schon seit den späten 1990er Jahren als Gastgeberin dieser wahren Institution in Dublin fungiert und von der Menge mit jubelnden Zurufen und Applaus begrüßt wird, sobald sie die Bühne betritt.
Shirley Temple Bar
Shirley selbst ist in Irland weithin bekannt und war vier Jahre lang bei dem nationalen Sender RTE als Moderatorin von Telly Bingo tätig, eine Rolle, die ihr Alter Ego Declan Buckley noch immer dreimal in der Woche übernimmt.
Aber Shirleys legendäre Karriere im Ausrufen der Bingozahlen begann hier im The George im Jahr 1997, nicht lange, nachdem sie die heiß begehrte Krone im Wettbewerb Alternative Miss Ireland gewonnen hatte. Der überaus queere jährliche Schönheitswettbewerb Gay Christmas wurde 25 fabelhafte Jahre lang veranstaltet, um Gelder für irische HIV/AIDS-Organisationen aufzubringen, und in jenem Jahr stahl Shirley Temple Bar die Herzen der Preisrichter mit ihren Scherzen und dem unvergleichlichen Charme eines Dubliner Schulmädchens.
Shirley Temple Bar und Veda Beaux Reves
Wie sie selbst sagt, sie ist etwas älter, aber nie erwachsen geworden. Ihre Scherze sorgen für eine beschwingte Atmosphäre („nicht umblättern, das ist kein Kinderbuch“) und sie ruft die Bingokugeln in verschiedenen Sprachen aus, darunter Irisch („number nine, naoi, what does the horse say?“). Zeitweise wird es während des Bingospiels selbst merkwürdig still; es wird schnell klar, dass die Leute ihren Sonntagabend-Spaß durchaus sehr ernst nehmen.
Die Bingokarte markieren
Cocktails im The George
„Irische Drag-Queens können es ohne Weiteres mit Drag-Queens aus der ganzen Welt aufnehmen“, meint ein Stammgast im Publikum. „Sie singen gekonnt Playback und sehen fantastisch aus, aber sie haben auch echte Persönlichkeit, man weiß, wer sie sind. Jeder kann Playback singen, aber Shirley geht ganz in ihrer Darbietung auf.“
Es besteht kein Zweifel daran, in welcher Stadt wir uns befinden, dank Shirleys waschechtem Dubliner Akzent (33 wird zu „all the trees, number tirty-tree“), aber heute Abend ist das Publikum so kosmopolitisch wie das Personal. Hinter der Bar haben wir gutaussehende brasilianische Barkeeper, die mit ihren nach oben geknoteten Staff-T-Shirts ihre perfekte Waschbrett-Bauchmuskulatur zur Geltung bringen.
Shirley Temple Bar
Die große Preisgewinnerin heute Abend ist „Isabella from e-Spain“ (wie sie von Shirley genannt wird), die hier mit ihren Kollegen ihren Feierabend verbringt und noch ihre Uniform trägt. Isabella muss sich in einem harten Wettbewerb gegen Mateo und Hector durchsetzen, ist aber schlussendlich siegreich und gewinnt 600 € in druckfrischen 20er-Noten. Diese werden ihr im Rahmen einer großen Zeremonie von allen Drag-Queens überreicht, und zwar in Form eines umgekehrten Lapdance.
Die Show schließt mit einer mitreißenden Darbietung von „I'm a Woman“, in der Shirley die Zuneigung zu den sie unterstützenden Drag-Queens zum Ausdruck bringt, einschließlich der eleganten, langbeinigen Victoria Secret („sie ist Irlands Antwort auf Cate Blanchett“).
Von links nach rechts: Veda Beaux Reves, Dolly Grip, Shirley Temple Bar, Devina Devine
Nach dem großen Finale waren meine Freundinnen und ich überrascht, wie ausgefeilt diese Kultshow seit den Tagen, als wir nach unserer Arbeit als Mittagskellnerinnen am Sonntag gerne hier vorbeischauten, geworden ist.
„Damals machte das alles einen provokanteren Eindruck als heute“, bemerkt meine Freundin Moninne, „und wurde eher im Geheimen veranstaltet.“ Schließlich wurde Homosexualität in Irland erst im Jahr 1993 entkriminalisiert. „Damals war dieser Ort ganz der Queer-Szene vorbehalten, jetzt sind Drag-Shows längst wesentlich etablierter. Bei Drag-Brunches und anderen Drag-Veranstaltungen in Dublin sieht man viele Leute, die nicht zur LGBT-Szene gehören und dennoch an den provokanten Drag-Darbietungen viel Spaß haben.“
Shirley Temple Bar
Mizza
Seit unseren gemeinsamen Tagen als Kellnerinnen hat sich Moninne zur Direktorin von Irlands Kampagne zur Gleichstellung der Ehe entwickelt, die schließlich ihren krönenden Höhepunkt in dem erfolgreichen Referendum am 22. Mai 2015 fand, als eine klare Mehrheit der irischen Bevölkerung dafür stimmte, die gleichgeschlechtliche Ehe in der Republik Irland zu legalisieren. Sie ist jetzt CEO von Belong To, einer Organisation, die Jugendhilfe und Interessenvertretung für junge LGBTQ+-Menschen bietet.
Stimmt sie dem spanischen Pärchen zu, dass Dublin jetzt eine sehr LGBT-freundliche Stadt ist? „Dublin ist wesentlich inklusiver und queer-freundlicher geworden, und wir genießen mittlerweile einen großartigen Ruf im Ausland. Wir haben die Gleichstellung der Ehe erreicht und verfügen über einige der progressivsten Gesetze zur Anerkennung der Geschlechtsidentität in Europa.“
„Und ich weiß, dass viele LGBT-Menschen derzeit hierherziehen, da andernorts die Atmosphäre feindlicher geworden ist. Wir sind dagegen nicht immun, aber die große Mehrheit der irischen Bevölkerung unterstützt die LGBT-Identität und feiert sie sogar.“
Von links nach rechts: Veda Beaux Reves, Dolly Grip, Shirley Temple Bar, Victoria Secret, Devina Devine
Sie weist als Beispiel auf die jährliche Pride-Parade in Dublin hin, die jeden Juni als riesige Streetparty gefeiert wird. „Die Parade ist sehr familienorientiert und Mengen von Leuten kommen mit ihren Kindern und Regenbogenfahnen in die Stadt. Ganz ähnlich wie am St. Patrick's Day.“
Heute Abend findet die beste Party der Stadt jedoch im The George statt – wie jeden Sonntagabend. Kommen Sie jedoch auf jeden Fall früh hierher, damit Sie Plätze nahe am Geschehen ergattern können.